Wieder ausgegraben: Im Herbst 2017 habe ich für Stadtkind Stuttgart das Phänomen Lokalpatriotismus analysiert, der in Stuttgart traditionell sehr ausgeprägt ist (wie auch bei mir).
In einer Welt, die scheinbar oft nur noch in Gefühlen und Gefühlslagen vermessen wird, ist der Lokalpatriotismus in Stuttgart gefühlt so stark wie nie zuvor. Dabei hatte Stuttgart Lokalpatriotismus schon immer ganz gut drauf.
Vielleicht auch weil der klischeebehaftete Anti-Stuttgart-Wind seit jeher stark durch die restliche Republik bläst (und, wieder gefühlt, erst in den letzten Jahren etwas abnimmt). Da muss man dann halt auch mal aufstehen und sich dagegen stemmen, vor allem wenn man hier sehr gerne lebt. Meine Generation hält spätestens seit Mitte der 90er mit dem Song „Mutterstadt“ von Massive Töne die Stuttgart-Fahne hoch. Und wenn morgens beim letzten Song „1st Liebe“ von Max Herre der ganze Club mitsingt, dann weißt du wieder: Des isch halt des. Stuttgart.
Diese einzigartigen „Mutterstadt“-Zeilen, an die seitdem nie wieder ein anderer Stuttgart-Song rankam, sind nun 20 Jahre alt oder jung. Gut zehn Jahre nach der Veröffentlichung starteten Thorsten Weh und ich im Juli 2008 einen der damals ersten Stuttgart-Blogs namens Kessel.TV. Die Idee einst wie heute: Kessel.TV sollte die Stadt so wiedergeben, wie wir diese Stadt sehen, kennen und vor allem lieben. Auf dem lokalen Online-Korridor war es damals noch relativ einsam, fast noch dunkel. Zu jener Zeit war das iPhone gerade ein Jahr lang auf dem Markt, die Video-Qualität auf Youtube relativ mies, Facebook schlug ganz vorsichtig in Deutschland auf und Instagram war noch nicht einmal eine Idee.
Weitere zehn Jahre später, im Jahr 2017, ist die digitale Straße namens Stuttgart-Liebe dicht besiedelt, siehe nur die vielen Facebook-Seiten oder die unzähligen Stuttgart Instagram-Accounts, die ein starkes Bild nach dem anderen posten. Machen wir bei Kessel.TV auch gerne mit. Und auch beim dreimillionsten Schlossplatz-Fernsehturm-Kessel-View-Shot hagelt es Likes en Masse. Bald ist ja auch wieder Weihnachtsmarkt. Insta-Erfinder Kevin Systrom fällt bestimmt vor lauter Vorfreude von seinem Rennrad, das er so gerne fährt.
Dazu bringen die User in unzähligen Kommentaren („ach Stuttgart“, „unser Stuggi“, „KESSELLIEBE!!!11!!!!“) und versehen mit vielen Herzle-Augen-Emojis ihre Heimatliebe zum Ausdruck. Verstärkt durch Social Media wurde die Liebe zu Stuttgart nie breiter und größer proklamiert als heutzutage. Und sowieso: Bildergalerien mit alten Stuttgart-Bildern gehen immer und überall.
Nicht nur aus den Smartphones sprudelt eine warme Stuttgart-Zuneigung, auch im Real Life ist Lokalpatriotismus-Peaktime. Und der Hype ist für manch einen sicherlich ein ganz gutes Geschäft (das gilt natürlich ebenso für online), siehe z.B. das Stuttgart-Panini-Album, das sich scheinbar besser verkauft als die tägliche Auslage beim Bäcker Frank, oder die Bücher der Facebook-Seite „Unnützes Stuttgart Wissen“, die mir auch schon meine Mutter unter den Weihnachtsbaum gelegt hat. Ihr Gedanke: „Etwas mit Stuttgart gefällt ihm bestimmt“. Ja, das ist richtig, meistens. Das Panini-Album brauche ich allerdings nicht, danke.
Manche Produkte benutzen zwischenzeitlich stolz die mir schwer suspekte Stuttgart-Abkürzung „Stuggi“ („Stuggi Burger“, „Stuggi Schorle“, Weißwürste namens „Stuggis“), was vor einem Jahrzehnt noch undenkbar gewesen wäre. Messen für lokale Aussteller wie die „Made in Stuggi“ werden die Türen eingerannt und in der ganzen Stadt sind die Beutel und Sticker mit dem Aufdruck „Make Königstraße great again“ des temporären Kaufhaus Mitte zu sehen. Keine Frage, Dr. Love spreadet eine Liebeserklärung nach der anderen über „Stuttgarts Hügeln in die Welt“.
Passend zum Lokalpatriotismus-Boom boomen bekanntlich seit Jahren alles wo „Stuttgart-Krimi“ drauf steht. Das Stuttgart-Abteil beim Wittwer platzt eh bald. Die Klamotten mit lokalen Liebesbotschaften bekommt man in Läden wie z.B. dem S-T-G-T / 0711 Store. Das ist schwäbisch-präzis organisiertes Open Source-Stadtmarketing. Bei der Stuttgart-Marketing GmbH macht man gerade wahrscheinlich jeden Tag ein Faß auf, eines aus der Tübingerstraße natürlich, weil es läuft ja alles von alleine. Kleines Scherzchen.
Passend zu diesen Zeiten setzen jetzt auch noch der VfB Stuttgart gemeinsam mit dem Kreativnetzwerk 0711, die quasi den modernen Lokalpatriotismus vor über 20 Jahren erfunden haben, die nächste Benchmark: Ab kommenden Dienstag, 7. November (12:00 Uhr) kann man im Popup-Store am Rotebühlplatz 20a die limitierte Kooperations-Kollektion „Wir sind Stuttgarter“ erwerben, darunter das VfB X 0711 Stadttrikot. Eine derartige Liaison aus Profifußballverein und Profikreativen im Zeichen der Heimatliebe ist bis dato nicht bekannt. Mehr geht nicht. Erst einmal nicht zumindest nicht.
Hinter dieser rosaroten Stuttgart-Brille und tausenden Bärenseen und Santiago De Chile-Plätzen im Bauch muss natürlich gerechterweise noch anmerken: Diese Liebesgefühle stellen sich natürlich längst nicht bei allen Menschen ein. Der Unmut über die Stadt, und sei es nur die Aussage, wie hässlich die Stuttgart denn ist (what?!!?!), hat sich die letzten Jahre ebenso gut konserviert wie Herzleaugen-Emojis unter Kessel-Bilder.
Ist natürlich auch nicht immer alles geil hier, ganz im Gegenteil. Jede Großstadt hat ihre eigenen großen wie kleinen Probleme. In Stuttgart erscheinen sie oftmals ein klein wenig größer. Die Frage ist nur, was man daraus macht: Tagein tagaus schimpfen oder trotzdem seine Liebe zeigen? Letzteres scheint aktuell der Zeitgeist zu sein. Auch wenn mir davon nicht alles gefällt: Mir gefällt das. Und wie meinte neulich erst das Blog European Coffee Trip zu den Stuttgarter: „When the sun is out, so are the people!“